DIE SCHULD von Samuel W. Gailey, neu auf Platz 7

Serie: DIE KRIMIBESTENLISTE im Februar 2024, Teil 7
 
Claudia Schulmerich

Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Erfreulich, daß die letzten Monate Kriminalromane des Polar Verlags aus Stuttgart auf der Krimibestenliste stehen. Zu Recht. Was DIE SCHULD angeht, geht dem Leser und erst recht der Leserin, die diesen Krimi gerade schriftlich würdigt, an die Nieren, besser: ins Gemüt. Wie schon der Titel DIE SCHULD evoziert, geht es um sehr persönliche Dinge, denn Schuld hat immer mit Moral, mit Versagen, mit persönlicher Verantwortung zu tun – ob zu Recht oder zu Unrecht.

Alice O’Farell auf jeden Fall wird schuldig, obwohl sie keine Schuld am Unfalltod ihres vierjährigen Bruders Jason trifft. Das war 2005 und sie war mit ihm allein zu Hause, weshalb die Eltern, die ihren zwanzigsten Hochzeitstag beim Auswärtsessen feiern wollten, ihr aufgetragen hatte, auf den kleinen Bruder gut aufzupassen. Der ist eben ein typisch Vierjähriger, der einen Unsinn nach dem anderen macht. Gerade hat er mit rotem Fingernagellack erst die Tapete in ihrem Zimmer ‚geschmückt‘ und nun auch noch ihren Flokati ruiniert. Sie ist außer sich, brüllt ihn an, bis er sich lautlos verzieht. Während sie versucht, den Lack aus dem Teppich zu kriegen, hört sie seltsamer Geräusche. KA-WUMM. KA-WUMM.

Das hört die Leserin noch lange Zeit in ihrem eigenen Kopf, wenn Alice dem Geräusch nachgeht und auf den Hund Baxter trifft, der vor dem Wäschetrockner laut bellt, denn dieser läuft und macht diese Geräusche, denn in diesen hat sich Jason geflüchtet und ist zu Tode gekommen. So etwas Grausames kann auch die Leserin nicht vergessen, erst recht nicht, wenn ihr ein Ereignis vor 40 Jahren noch heute dasselbe Grauen bereitet. Da hatte eine Freundin Wäsche getrocknet, herausgenommen und noch weitere feuchte Wäsche hineingesteckt, den Trockner angestellt und nicht mitbekommen, daß ihr kleiner Kater in den warmen offenen Trockner geklettert war und auf diese Weise starb.

Für mich war also dies Trauma, das Alice erlebt, sofort unter der Haut spürbar und auch, wenn sie den Trockner nicht anstellte – wie der Junge den von innen anstellen kann, bzw. die Tür von innen zudrücken kann, ist mir unklar - , trifft sie moralisch die Schuld, weil sie nicht, was sie sollte, auf den kleinen Bruder aufgepaßt hat. Die häusliche Situation danach ist schrecklich. Das Unglück der Familie atmet aus den Wänden und obwohl die Eltern ihr nicht direkt die Schuld geben, so ist die Traurigkeit nicht auszuhalten. Alice weiß, sie muß weg.

Das schließen wir aber nur daraus, daß es im nächsten Kapitel mit dem Februar 2011 weitergeht, wo wir Alice als verwahrloste Alkoholikerin vorfinden: „sie konnte sich an keinen einzigen nüchternen Abend in den letzten Jahren erinnern.“ Das und ihr mieser Zustand kommen ihr zu Bewußtsein, als sie die Augen aufschlägt, ein fremdes Zimmer, sieht, sie nackt, ein Mann im Bett neben ihr. Sie zieht sich an, weckt den Schlafenden, nur wacht er nicht auf. Er ist tot. Er ist ihr Chef, in dessen Striplokal sie als Barfrau arbeitet und sie hatte nie was mit ihm. Und dann findet sie die Tasche mit 91 000 Dollar und Drogen dazu.

Sie muß sich schnell entscheiden. Läßt die Drogen da, nimmt das Geld und haut ab. Was jetzt beginnt, ist eine klassische Verfolgungsjagd durch die, denen der Chef die Tasche hätte geben müssen. Außerdem, wer hat ihn umgebracht? Jemand, der von der Tasche nichts wußte. Doch man kommt kaum zum Nachdenken, denn es ist ein einziges Abenteuer, dem wir lesend hinterherhecheln, wenn Alice den Verfolgern Haken schläft, die aber immer näher kommen.

Sinclair, der Bandenboß, ist schlau und findet ihren Weg. Doch dann lernt sie einen alten Mann, einen Überlebenskünstler, der eigentlich seinem Leben ein Ende setzen wollte, kennen und das ist der Beginn einer wunderbaren Freundschaft, die sie so stabilisiert, daß sie ihre Eltern aufsuchen und sich mit ihnen aussprechen kann. Versöhnung ist das Thema dieses Romans, der so schrecklich anfängt und die Heldin durch die Schrecken der Hölle führt, wenn schon nicht ins Paradies, doch in ein akzeptables Leben, das jetzt vor ihr liegt. Man ist einfach berührt. Ein wunderbares, Mut machenden Buch.


Die zehn besten Kriminalromane im Februar 2024

1 (–) Arne Dahl: Stummer Schrei
Aus dem Schwedischen
von Kerstin Schöps
Piper, 458 Seiten, 17 Euro

Stockholm, Uppland. Terror gegen Klimakatastrophe: Bomben zerfetzen Manager.
Eva Nyman, Chefin der Spezialeinheit NOVA, ahnt, wer hinter den Anschlägen steckt:
ihr ehemaliger Chef, der als Prepper im Wald lebt. Doch auch nachdem er gefasst ist,
gehen die Anschläge weiter. Neue Serie vom Meister intelligenter Spannung.


2 (–) Hervé Le Corre:
Durch die dunkelste Nacht
Aus dem Französischen von Anne Thomas
Suhrkamp, 340 Seiten, 17 Euro

Bordeaux. Ein muttergeschädigter Frauenmörder, ein desillusionierter Kriminalpolizist und
eine junge alleinerziehende Mutter, geprägt von Gewalterfahrung, treiben
durch Spätwinternächte voller Schlamm, Regen und Depression. Deutsche Entdeckung
eines der bekanntesten französischen Krimiautoren und seiner schwarzen Ästhetik.


3 (1) Robert Galbraith: Das strömende Grab
Aus dem Englischen von Wulf Bergner,
Christoph Göhler, Kristof Kurz
Blanvalet, 1292 Seiten, 29,90 Euro

London, Norfolk. Detektivin Robin ermittelt undercover in einer Psycho-Sekte.
Ein Horrortrip: Gewalt und Gehirnwäsche, Geisteranbetung und erzwungener
Geschlechtsverkehr halten die wie Sklaven schuftenden Gläubigen auf Linie.
Joanne K. Rowling alias Robert Galbraith dreht kunstvoll an der Angstschraube.


4 (–) Shehan Karunatilaka:
Die sieben Monde des Maali Almeida
Aus dem Englischen von Hannes Meyer
Rowohlt, 543 Seiten, 30 Euro

Colombo, Sri Lanka. Der schwule Spieler und Kriegsfotograf Maali Almeida ist tot.
Sieben Tage hat er in der Zwischenwelt der Geister, um Vorgeschichte und Ursache
seines Todes aufzuklären. Zwischen Liebsten, Verwandten, Mördern, Politikern und
Dämonen versucht er, im Bürgerkriegschaos seines Landes Sinn zu erkennen.


5 (–) Candice Fox: Stunde um Stunde
Aus dem Englischen
von Andrea O’Brien
Suhrkamp, 475 Seiten, 18 Euro

Los Angeles. Ryan und Elsie Delaney haben Geiseln im Labor des LAPD genommen
und drohen, stündlich einen forensischen Beweis zu vernichten, bis das Verschwinden ihrer
Tochter vor zwei Jahren aufgeklärt ist. Detective Hoskins und Anwärterin
Lamb müssen rasch und ohne Regeln ermitteln, um ihre Cop-Identität zu retten.


6 (2) Uta-Maria Heim:
Tanz oder stirb
Gmeiner,
283 Seiten, 14 Euro


Stuttgart. Traumatherapeutin Nuria Haas leidet darunter, ein Findelkind zu sein. Als
eine Elevin in Not sie um Hilfe bittet, stößt Nuria im Ballettmilieu auf ihre leibliche
Mutter, tot. Wer hat sie erschlagen? Ein dunkler Hallraum tut sich auf: Erziehung und
Gewalt, verquere Liebe aus den Beziehungslöchern des Kalten Kriegs.


7 (–) Samuel W. Gailey: Die Schuld
Aus dem Englischen
von Andrea Stumpf
Polar, 308 Seiten, 26 Euro

Südöstliche USA. Alice’ kleiner Bruder ist vor Jahren tödlich verunglückt, weil sie
nicht auf ihn aufgepasst hat. Mit Alk und miesen Jobs bekämpft sie seitdem ihre
Schuldgefühle. Bis sie neben ihrem toten Boss und einem Haufen Drogengeld aufwacht. Von da an ist sie auf der Flucht, rettet ein Mädchen – auch sich selbst?


8 (9) Doug Johnstone: Eingefroren
Aus dem Englischen
von Jürgen Bürger
Polar, 393 Seiten, 26 Euro

Edinburgh. Dorothy, Jenny, Hannah – Großmutter, Mutter und Tochter Skelf –
betreiben ein Bestattungsinstitut und eine Detektei: Täglich provoziert Tod den Sinn
ihres Lebens. Psychopath und Ex-Familienmitglied Craig bedroht sie. Ein Professor
bringt sich um, eine Tochter sucht ihren Vater. Das Universum dehnt sich weiter aus.


9 (3) Robert Brack:
Schwarzer Oktober
Edition Nautilus
158 Seiten, 16 Euro

Hamburg 1923. Inflation, Arbeitslosigkeit, Hunger: So kann es nicht weitergehen.
Freiheit, proletarische Revolution will Klara Schindler, 19, erkämpfen. Und
Schreiben. Beim Aufstand der Arbeiter hat sie Fieber, die KPD-Genossen mögen
Lesben nicht, und zu alldem geht ein Frauenmörder um. Hautnah, zum Mitbeben.


10 (–) Max Annas:
Berlin, Siegesallee
Rowohlt
285 Seiten, 22 Euro

Berlin 1914, Douala. Suffragette Florentine und die drei Schwarzen Ernst, Joseph und
Friedrich haben gute Gründe für ein Fanal gegen das Kaiserreich: Massenmord in den
Kolonien, rassistische und chauvinistische Demütigung. Zunächst töten sie Militärs,
dann wollen sie dem Herrscher selbst an den Kragen. Historische Phantasie.