PRIMAT DES ÜBERLEBENS von Les Edgerton, neu auf Platz 9

Serie: DIE KRIMIBESTENLISTE im März 2024, Teil 3
 
Claudia Schulmerich

Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Puh, am Schluß schüttelt man sich, dabei hat es doch so beglückend angefangen. Nun gut, man erwartet von Kriminalromanen schon, daß etwas Schlimmes passiert, aber der versierte Autor wickelt uns erst einmal so ein, läßt den Icherzähler Jake Bishop, der Übles hinter sich hat, in seiner Ehe mit Paris so glücklich sein, zudem ist die Frau wirklich eine Wucht, schön, schlau, jetzt auch noch schwanger und sie liebt den Mann, der dem Leser, noch stärker der Leserin immer sympathischer wird. Weil er gelernt aus, aus Schlimmem herauszufinden und gradlinig und aufrecht seinen bürgerlichen Weg zu gehen.

Doch es kommt alles anders. Die Leserin will das erst nicht wahrhaben und klammert sich an all die Zeichen, die Jake aussendet, daß noch alles gut wird, denn das ist seine Sehnsucht, das das Gute, daß er sich in zwei Jahren geschaffen hat, von Dauer ist und sich sogar steigert. Er tut alles dafür.

Zur Zeit ist er ein begehrter Haardesigner in einem Frisiersalon, aber er wird sich selbständig machen, bald ist es soweit. Seine Frau unterstütz ihn in allem und bringt auch das notwendige Geld nach Hause, damit er sich auf das Wagnis eines eigenen Salons einlassen kann. Die Zukunft ist strahlend, zumal Paris schwanger ist. Alles ist gut. Alles wird noch besser.

Denn hinter Jake liegen schlimme Zeiten. Die erste Knasterfahrung war eine jugendliche Untat. Nicht der Rede wert. Und beim zweiten Mal war er sicher, nicht erwischt zu werden, zudem sollte es der letzte Einbruch sein. Nur hatte sich seine Begabung längst herumgesprochen, niemand konnte so wie er unsichtbar so ein Ding drehen. Doch das, was er im Knast erlebte, war das Schlimmste, was man sich vorstellen kann und der Autor läßt das auch erst ganz am Schluß raus, das Eigentliche. Als Bedrohung ist es allerdings von Anfang an spürbar, aber wir sind so mit dem glücklich werdenden Leben von Jake beschäftigt, daß wir es besser wissen wollen. Er hat eine Zukunft, wissen wir mit ihm. Denn nie wieder wird er gesetzesuntreu, ein drittes Mal gäbe es ein Lebenslänglich. Nicht mit ihm.

Daß er noch ein anderes Bündel zu tragen hat, ergibt sich nach und nach. Sein jüngerer Bruder Bobby, ein aufmüpfiger Teenager lebt bei ihnen. Die Eltern kamen bei einem Brand im Haus um, an dem sich Bobby schuldig fühlt und auch ist, wie er am Schluß aufschreibt, als er wegen jugendlicher Taten nur eine Nacht im Gefängnis bleiben muß, das aber nicht überlebt. Spätestens bei den häufigen Schilderungen im Buch über sexuelle Gewalt, die von anderen männlichen Gefangenen nicht nur ausgeht, sondern in Vergewaltigungen und Mord endet, wird einem die Information, daß der später gerühmte Autor in frühen Jahren wegen eines bewaffneten Raubüberfalls selbst zwei Jahre im Knast saß, wichtig. So und derart getrieben, schreibt nur einer, der genau weiß, wovon er schreibt.

Und so holt Jake alles ein, als sein alter Knastkumpan Walker auftaucht und ihm einen gemeinsamen Einbruch mit einem Dritten vorschlägt. Schließlich habe er noch etwas gut bei ihm, was stimmt, denn Walker hatte ihn im Knast vor Schlimmeren bewahrt. Heißt es. Diesen Dritten, Walker, kennt er sogar, er ist ein Juwelier und Kunde beim Haareschneiden, aber jetzt wollen die beiden, daß er seine Einbruchsfähigkeiten bei einem weiteren Juwelier, der einsam im Wald wohnt, ausübt. Nein, nicht mit ihm. Doch dann spricht Walker davon, daß er Spencer weitererzählt hat, was ihm Jake im Vertrauen von weiteren, nicht entdeckten Verbrechen erzählt hatte, womit ihn Spencer sofort erpreßt. Als ob das nicht genügt hätte, spielt er zusätzlich falsch, in dem er bei einem Einbruch, der in seinem Laden geschah, in der Personenbeschreibung der Räuber einen so beschreibt, daß die Polizei sofort auf Bobby kommt und diesen einbuchtet, was dieser nicht überlebt. Sofort muß man wieder an die eigenen Knasterfahrungen des Autors denken, mit denen er sich wohl ein Leben lang herumgeschlagen hat.

Das alles nimmt seinen Gang. Lange hofft die Leserin mit Jake, daß alles gut ausgeht. Er ist ein Guter, will nur Gutes und fühlt sich verantwortlich für Bruder und Frau. Und weil wir so auf seiner Seite sind, was der Autor geschickt in der Icherzählung intendiert, dauert es wirklich lange, bis wir merken, nein, das kann nicht gut ausgehen, nicht, wie am Anfang möglich, sogar zu einem gesicherten Einkommen für Jake und die Familie führen. Der Weg von Jake erneut in den Knast führt über viele Tote, das reinste Panoptikum an schrecklichen Zufällen, eine solche Aussichtslosigkeit. Wo fing das an, wo hätte sich Jake anders entscheiden können und müssen. Das beschäftigt die Leserin noch lange. Denn auch wenn der Strudel der Ereignisse hier unausweichlich erscheint, will man sich von der Erkenntnis, daß unsere Entscheidungen unser Leben beeinflußen, nicht verabschieden.

Eine sehr intensive Leseerfahrung.



Die zehn besten Kriminalromane im März 2024

1 (2) Hervé Le Corre:
Durch die dunkelste Nacht
Aus dem Französischen von Anne Thomas
Suhrkamp, 340 Seiten, 17 Euro

Bordeaux. Ein muttergeschädigter Frauenmörder, ein desillusionierter Kriminalpolizist und eine
junge alleinerziehende Mutter, geprägt von Gewalterfahrung, treiben
durch Spätwinternächte voller Schlamm, Regen und Depression. Deutsche Entdeckung
eines der bekanntesten französischen Krimiautoren und seiner schwarzen Ästhetik.


2 (1) Arne Dahl: Stummer Schrei
Aus dem Schwedischen von
von Kerstin Schöps
Piper, 458 Seiten, 17 Euro

Bordeaux. Ein muttergeschädigter Frauenmörder, ein desillusionierter Kriminalpolizist und
eine junge alleinerziehende Mutter, geprägt von Gewalterfahrung, treiben
durch Spätwinternächte voller Schlamm, Regen und Depression. Deutsche Entdeckung
eines der bekanntesten französischen Krimiautoren und seiner schwarzen Ästhetik.


3 (–) Danya Kukafka:
Notizen zu einer Hinrichtung
Aus dem Englischen von Andrea O’Brien
Blumenbar, 348 Seiten, 22 Euro

Upstate New York. In zwölf Stunden wird Ansel Packer hingerichtet. Zeit für den
Serienmörder, sein Leben zu rekapitulieren. Kukafka spiegelt es in den Schicksalen
dreier Frauen, die seinen Weg kreuzen mussten. Omnipräsente patriarchale Gewalt
und ihre Zerstörungen: Keine Hinrichtung kann sie heilen. Eindringlich.


4 (3) Robert Galbraith: Das strömende Grab
Aus dem Englischen von Wulf Bergner,
Christoph Göhler, Kristof Kurz
Blanvalet, 1292 Seiten, 29,90 Euro


London, Norfolk. Detektivin Robin ermittelt undercover in einer Psycho-Sekte.
Ein Horrortrip: Gewalt und Gehirnwäsche, Geisteranbetung und erzwungener
Geschlechtsverkehr halten die wie Sklaven schuftenden Gläubigen auf Linie.
Joanne K. Rowling alias Robert Galbraith dreht kunstvoll an der Angstschraube.


5 (–) Fabio Stassi: Die Seele aller Zufälle
Aus dem Italienischen
von Annette Kopetzki
Edition Converso, 284 Seiten, 24 Euro


Rom. Nur wenige kaum verständliche Worte hat Bibliotherapeut und Detektiv Vince
Corso, um ein Buch aufzuspüren, das der Schlüssel zum geistigen und vermutlich
sogar finanziellen Vermächtnis eines Alzheimerkranken sein soll. Detektion mit den
Wundern des Lesens und der Imagination. Vor der Tür: engstirniger Ausländerhass.


6 (–) Patrícia Melo: Die Stadt der Anderen
Aus dem Portugiesischen
von Barbara Mesquita
Unionsverlag, 398 Seiten, 26 Euro

São Paulo. An der Praça Matriz kommen die Obdachlosen, Junkies, Waisenkinder
der Metropole zusammen. Unverdrossen rennen sie gegen Hunger, Polizeiterror,
Vertreibung, staatliche „Fürsorge“ an, sehnsüchtig nach Glück und Zukunft.
Brasiliens Elend. Ode an die Überlebenskraft der vermeintlich Schwächsten.


7 (5) Candice Fox: Stunde um Stunde
Aus dem Englischen
von Andrea O’Brien
Suhrkamp, 475 Seiten, 18 Euro

Los Angeles. Ryan und Elsie Delaney haben Geiseln im Labor des LAPD genommen
und drohen, stündlich einen forensischen Beweis zu vernichten, bis das Verschwinden
ihrer Tochter vor zwei Jahren aufgeklärt ist. Detective Hoskins und Anwärterin
Lamb müssen rasch und ohne Regeln ermitteln, um ihre Cop-Identität zu retten.


8 (10) Max Annas:
Berlin, Siegesallee
Rowohlt
285 Seiten, 22 Euro

Berlin 1914, Douala. Suffragette Florentine und die drei Schwarzen Ernst, Joseph und
Friedrich haben gute Gründe für ein Fanal gegen das Kaiserreich: Massenmord in den
Kolonien, rassistische und chauvinistische Demütigung. Zunächst töten sie Militärs,
dann wollen sie dem Herrscher selbst an den Kragen. Historische Phantasie.


9 (–) Les Edgerton: Primat des Überlebens
Aus dem Englischen von
Ango Laina und Angelika Müller
Pulp Master, 342 Seiten, 16 Euro

South Bend. Kurz vor Eröffnung des eigenen Friseurladens wird Ex-Einbrecher Jake
Bishop von einem Kumpel erpresst. Der Einbruch, der Jakes Bruder vor dem Knast
und ihn vor Lebenslänglich bewahren soll, geht gründlich schief. Eine Unbeteiligte
stirbt. Die Beseitigung ihrer Leiche führt immer tiefer ins Desaster. Rabenschwarz.


10 (4) Shehan Karunatilaka:
Die sieben Monde des Maali Almeida
Aus dem Englischen von Hannes Meyer
Rowohlt, 543 Seiten, 30 Euro
Colombo, Sri Lanka. Der schwule Spieler und Kriegsfotograf Maali Almeida ist tot.
Sieben Tage hat er in der Zwischenwelt der Geister, um Vorgeschichte und Ursache
seines Todes aufzuklären. Zwischen Liebsten, Verwandten, Mördern, Politikern und
Dämonen versucht er, im Bürgerkriegschaos seines Landes Sinn zu erkennen.
Krimibestenliste März 2024