Max Annas’ BERLIN, SIEGESALLEE auf dem 8. Rang

Serie: DIE KRIMIBESTENLISTE im März 2024, Teil 5
 
Claudia Schulmerich

Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Auch Max Annas ist im März kein Neuling. Er ist vom 10. Platz auf den 8. vorgerückt und seine Berliner SIEGESALLE führt uns ins Jahr 1914, ins Frühjahr, noch vor dem Kriegsbeginn am 1. August, wo sich dann die politischen Verhältnisse sich klären. Leider. In die deutschsprachigen Reiche und die Entente, wobei später die Türkei und noch später Bulgarien die Hohenzollern und Habsburger unterstützten, während auf der anderen Seite die Kriegsgegner Frankreich, Großbritannien und Russland dann von Belgien, Griechenland, Rumänien, Serbien, Italien, den USA und Japan unterstützt wurden.Interessant daran ist, daß das im Zweiten Weltkrieg anders sein wird, wo Japan und lange Italien auf der deutschen Seite standen sowie Ungarn, Rumänien, Bulgarien, Kroatien, die Slowakei und Finnland.

Doch darum geht es im Buch überhaupt nicht, denn im Frühjahr des Jahres 1914 beschäftigt die Protagonisten dieses Romans etwas ganz anderes: Der Völkermord in Deutsch-Südwest, der vergessen scheint, denn in den Kolonien ist die Ruhe eingekehrt und die Deutschen leben dort in Saus und Braus und in der Heimat profitiert man von der Ausbeutung der Kolonie und den dort reich gewordenen Deutschen. Doch diese drei, um die es gleich geht, wissen darum und sie wissen es sogar ganz genau. Es sind drei Schwarze, drei junge Männer:

Joseph Ayang ist der Sohn eines Kameruner Kolonialbeamten und will in Berlin Theologie studieren. Er kommt uns am nächsten, weil er später nach Afrika zurückkehrt und seinem Berliner Freund Theodor, Bruder von Florentine, davon später, jahrelang und lange Briefe nach Berlin schreibt.

Ernst ist in dienender Funktion tätig, wie die meisten Schwarzen. Ihn hat sein Herr, der Maler Ernst Schneider aus den Kolonien, aus Südwest, mitgebracht, ein Ekelpaket, anspruchsvoll und klassen-, ja rassebewußt.

Der Dritte ist Deutscher, im deutschen Reich geboren, Friedrich Smith, dessen schwarzer Vater aus den USA stammt. Doch was wären diese drei ohne Florentine von Baum! Sie ist eigentlich die interessanteste, weil widersprüchlichste Figur. Die Fabrikkantentochter aus der Steglitzer Villa ist auch klassenbewußt, allerdings im umgekehrten Sinne. Sie hält diese männlich dominierte Rassen- und Klassenherrschaft für überholt, ja entsetzlich und will mit der Frage der Gleichberechtigung von Schwarz und Weiß auch die Gleichberechtigung von Mann und Frau miterledigen, politisch erreichen.

Doch wie kommt eine Fabrikantentochter an drei schwarze, äußerlich integrierte, innerlich revoltierende junge Männer? Über ihren Bruder Theodor, der ansonsten, bis auf die Briefe an ihn seit dem Herbst 1014 vom nach Afrika zurückgekehrten Joseph. Wir können nicht länger drumherumreden, wenngleich einem beim Lesen der Atem stockt, was da abgeht. Die Vier verabreden einen Mord. Denn es soll öffentlich werden, welche Verbrechen in den Kolonien im deutschen Namen verübt wurden. Wer umgebracht wird, ist egal, er muß nur ein Symbol für das Deutsche Reich sein. Aha, ein Soldat, das wäre es. Unglaublich, mit welche Kühle dieser zufällig dahinschreitende Soldat abgestochen wird.

Aber, was passiert? Nichts. Die Vier sind fassungslos. Jetzt sollte es doch losgehen, die Anklage gegen die Zustände. Aber alles wird totgeschwiegen, also müssen die Vier in ihrer Logik mehr Action herstellen. Nicht einen Soldat im Dunklen in unbewohnter Gegend ermorden, sondern ganz offen auf der Straße, damit das Fanal wirkt. Doch da kommt kein Soldat des Weges und deshalb inszeniert Florentine Folgendes: Ihr Dienstmädchen hat des Nachts heimlich einen Geliebten, einen Soldaten, der über die Leiter hochsteigt in ihre Zimmer. Und den erwischen sie eines Nachts, dann auf der Straße nicht weit von der Villa. Der nächste Tote. Jetzt wird doch etwas bemerkt. Aber die Diskussion, die öffentliche, unterbleibt auch diesmal. Ein toter Soldat ist noch kein Gesprächsthema, ein politisches schon gar nicht. Da treffen die Vier eine Entscheidung, die politisch nicht zu verstecken wäre: sie wollen den Deutschen Kaiser umbringen.

Beim Lesen denkt man immer wieder, wäre es ihnen doch geglückt, das 20. Jahrhundert in Europa. wäre anders verlaufen. Doch wir alle wissen ja, daß das Attentat nicht gelang.

Was bleibt? Die Kenntnisnahme einer historischen Situation, die selten in Deutschland Thema ist. Ja, von den Kolonien und den Verbrechen der Deutschen in Afrika, ist öfter die Rede, meist in Schüben erfolgt eine immer noch nötige Aufarbeitung – auch in Frankfurt, wo zu Kinder- und Jugendzeiten ein etwas heruntergekommenes Stadtviertel KAMERUN hieß, ganz selbstverständlich für uns und wirklich ohne pejorativen Beigeschmack, würde heute nicht nur keiner es mehr so nennen, sondern die meisten wissen gar nicht darum - , aber hier geht es nicht um die Verbrechen in den Kolonien, sondern um die politischen Rädelsführer, die in Deutschlands Hauptstadt sitzen und saßen.

Es stockt einem zwar der Atem, wenn man die resolute Florentine beim Messerstechen erlebt, aber dann braucht man nur an die RAF denken und die jüngst in Berlin in Haft genommene Attentäterin der dritten Generation. Das können auch Frauen.

 
Max Annas ist zu danken, dieses unterbelichtete historische Thema literarisch aufgearbeitet zu haben.



Die zehn besten Kriminalromane im März 2024

1 (2) Hervé Le Corre:
Durch die dunkelste Nacht
Aus dem Französischen von Anne Thomas
Suhrkamp, 340 Seiten, 17 Euro

Bordeaux. Ein muttergeschädigter Frauenmörder, ein desillusionierter Kriminalpolizist und eine
junge alleinerziehende Mutter, geprägt von Gewalterfahrung, treiben
durch Spätwinternächte voller Schlamm, Regen und Depression. Deutsche Entdeckung
eines der bekanntesten französischen Krimiautoren und seiner schwarzen Ästhetik.


2 (1) Arne Dahl: Stummer Schrei
Aus dem Schwedischen von
von Kerstin Schöps
Piper, 458 Seiten, 17 Euro

Bordeaux. Ein muttergeschädigter Frauenmörder, ein desillusionierter Kriminalpolizist und
eine junge alleinerziehende Mutter, geprägt von Gewalterfahrung, treiben
durch Spätwinternächte voller Schlamm, Regen und Depression. Deutsche Entdeckung
eines der bekanntesten französischen Krimiautoren und seiner schwarzen Ästhetik.


3 (–) Danya Kukafka:
Notizen zu einer Hinrichtung
Aus dem Englischen von Andrea O’Brien
Blumenbar, 348 Seiten, 22 Euro

Upstate New York. In zwölf Stunden wird Ansel Packer hingerichtet. Zeit für den
Serienmörder, sein Leben zu rekapitulieren. Kukafka spiegelt es in den Schicksalen
dreier Frauen, die seinen Weg kreuzen mussten. Omnipräsente patriarchale Gewalt
und ihre Zerstörungen: Keine Hinrichtung kann sie heilen. Eindringlich.


4 (3) Robert Galbraith: Das strömende Grab
Aus dem Englischen von Wulf Bergner,
Christoph Göhler, Kristof Kurz
Blanvalet, 1292 Seiten, 29,90 Euro


London, Norfolk. Detektivin Robin ermittelt undercover in einer Psycho-Sekte.
Ein Horrortrip: Gewalt und Gehirnwäsche, Geisteranbetung und erzwungener
Geschlechtsverkehr halten die wie Sklaven schuftenden Gläubigen auf Linie.
Joanne K. Rowling alias Robert Galbraith dreht kunstvoll an der Angstschraube.


5 (–) Fabio Stassi: Die Seele aller Zufälle
Aus dem Italienischen
von Annette Kopetzki
Edition Converso, 284 Seiten, 24 Euro


Rom. Nur wenige kaum verständliche Worte hat Bibliotherapeut und Detektiv Vince
Corso, um ein Buch aufzuspüren, das der Schlüssel zum geistigen und vermutlich
sogar finanziellen Vermächtnis eines Alzheimerkranken sein soll. Detektion mit den
Wundern des Lesens und der Imagination. Vor der Tür: engstirniger Ausländerhass.


6 (–) Patrícia Melo: Die Stadt der Anderen
Aus dem Portugiesischen
von Barbara Mesquita
Unionsverlag, 398 Seiten, 26 Euro

São Paulo. An der Praça Matriz kommen die Obdachlosen, Junkies, Waisenkinder
der Metropole zusammen. Unverdrossen rennen sie gegen Hunger, Polizeiterror,
Vertreibung, staatliche „Fürsorge“ an, sehnsüchtig nach Glück und Zukunft.
Brasiliens Elend. Ode an die Überlebenskraft der vermeintlich Schwächsten.


7 (5) Candice Fox: Stunde um Stunde
Aus dem Englischen
von Andrea O’Brien
Suhrkamp, 475 Seiten, 18 Euro

Los Angeles. Ryan und Elsie Delaney haben Geiseln im Labor des LAPD genommen
und drohen, stündlich einen forensischen Beweis zu vernichten, bis das Verschwinden
ihrer Tochter vor zwei Jahren aufgeklärt ist. Detective Hoskins und Anwärterin
Lamb müssen rasch und ohne Regeln ermitteln, um ihre Cop-Identität zu retten.


8 (10) Max Annas:
Berlin, Siegesallee
Rowohlt
285 Seiten, 22 Euro

Berlin 1914, Douala. Suffragette Florentine und die drei Schwarzen Ernst, Joseph und
Friedrich haben gute Gründe für ein Fanal gegen das Kaiserreich: Massenmord in den
Kolonien, rassistische und chauvinistische Demütigung. Zunächst töten sie Militärs,
dann wollen sie dem Herrscher selbst an den Kragen. Historische Phantasie.


9 (–) Les Edgerton: Primat des Überlebens
Aus dem Englischen von
Ango Laina und Angelika Müller
Pulp Master, 342 Seiten, 16 Euro

South Bend. Kurz vor Eröffnung des eigenen Friseurladens wird Ex-Einbrecher Jake
Bishop von einem Kumpel erpresst. Der Einbruch, der Jakes Bruder vor dem Knast
und ihn vor Lebenslänglich bewahren soll, geht gründlich schief. Eine Unbeteiligte
stirbt. Die Beseitigung ihrer Leiche führt immer tiefer ins Desaster. Rabenschwarz.


10 (4) Shehan Karunatilaka:
Die sieben Monde des Maali Almeida
Aus dem Englischen von Hannes Meyer
Rowohlt, 543 Seiten, 30 Euro
Colombo, Sri Lanka. Der schwule Spieler und Kriegsfotograf Maali Almeida ist tot.
Sieben Tage hat er in der Zwischenwelt der Geister, um Vorgeschichte und Ursache
seines Todes aufzuklären. Zwischen Liebsten, Verwandten, Mördern, Politikern und
Dämonen versucht er, im Bürgerkriegschaos seines Landes Sinn zu erkennen.
Krimibestenliste März 2024