Weltexpresso - Giancarlo De Cataldo, Tana French, Tiffany Tavernier

Details: Kategorie: Bücher; Veröffentlicht: 10. Dezember 2024

DIE KRIMIBESTENLISTE im Dezember 2024, Teil 2

Claudia Schulmerich

Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Es ist ein guter Brauch, daß wir diejenigen Kriminalromane, die im alten Monat noch dabei waren und auf der neuesten Liste nicht mehr, sozusagen verabschieden, was auch deshalb interessant ist, weil sie aus ganz unterschiedlichen Gründen nicht mehr dabei sind.

So ist DER FREUND von Tiffany Tavernier erst im November auf die Liste gekommen. Und gleich wieder weg. Das heißt aber nicht, daß dieser Roman im Januar wieder nicht wieder auf die Liste kommen könnte. Das ist selten, aber kommt vor und hat einfach mit dem Abstimmungsmodus zu tun, daß ja von den Jurymitgliedern nur dann für einen Krimi gestimmt werden kann, wenn sie ihn kennen und so kam es schon vor, daß ein gelisteter Krimi im nächsten Monat verschwand, dann aber wieder im jeweils nächsten Monat dabei war und manchmal länger blieb.

Warten wir’s also ab, denn DER FREUND ist schon ein ungewöhnlicher, sehr spezifischer Kriminalroman, den man eher einen Roman nennen möchte, denn einen Krimi, denn hier gibt es keinen Mörder zu fassen, noch geschehen gerade Morde. Es ist schlimmer. Sie haben schon alle stattgefunden, die Morde an jungen Mädchen, ein Massenmörder also und er wird gerade gefaßt, wenn der Roman beginnt.

Das Ungewöhnliche daran ist nun, daß es der Nachbar des Täters ist, der zu uns spricht. Er lebt mit seiner Frau im Haus gegenüber und die beiden Häuser haben keine Nachbarn, liegen direkt am Waldesrand. Und dort werden jetzt die Leichen gesucht. Alles ist in Bewegung, nur Thierry hockt im Haus und kann es nicht fassen, sein lieber Nachbar, ja Freund soll ein Mörder sein, sogar ein Massenmörder. Das kann nicht sein.

Erst mit Ärger, dann mit Wut verfolgt er das Kriminalgeschehen, wenn die Mordkommission das Unterste zuoberst kehrt. Die Polizei ist schuld, sie verdächtigt den Falschen, seinen lieben guten Freund. Ach wie, seine Frau kann das nicht mehr hören, dann soll sie doch gehen, was sie gerade getan hat. Denn so kann und will sie nicht leben. Den Krimi über werden wir wie in einem höchst zugespitzten Psycho-Roman über die innere Abwehr des Thierry bis hin zur Akzeptanz, daß sein von ihm bewunderter Nachbar ein massenhafter Mädchenmörder war.

Giancarlo De Cataldo bringt nun genau gegenteilige Kriminalromane, die sind tiefschwarz, weil in ihnen zwar Einzelpersonen die Hauptrollen spielen, sie aber doch auch immer die jeweilige Gesellschaft widerspiegeln. Hier wird gleichzeitig die fatale Situation von Anwälten mitverhandelt, die entweder von ihrem Beruf gut leben können, sehr gut, weil sie betuchte Mandanten mit meist schmierigen Verfahren vertreten oder aufrecht durch’s Leben gehen, dann aber kaum etwas verdienen. Hier kommt aber noch eine andere Variante hinzu. Er soll aus der Anwaltskammer ausgeschlossen werden und will den Kotau vor einem bestimmten Obermufti nicht leisten, weiß andererseits, daß er einfach keinen Bock darauf hat, schon wieder einen Unterprivilegierten zu vertreten, was eh kein Geld bringt.

Es ist ein Schwarzer, der vor seinem Schreibtisch sitzt und den er einfach wegschickt. Und dann wird dieser vermißt, dann tot aufgefunden und er soll den Mörder suchen. Jetzt aber ist eine reiche und sehr einflußreiche Familie Auftraggeber und er nimmt an. Aber auch deshalb, weil er mit der Tochter dieser Familie eine Art von Beziehung hat. Alles Fettnäpfchen, in die er tritt und das Lesen spannend machen.

Tana French führt uns nach Irland und dabei fällt auf, daß alle drei Krimis in Europa spielen, das ist nicht selbstverständlich, denn noch immer sind die englischsprachigen Romane hauptsächlich in den USA zu Hause, aber inzwischen auch in Asien und dem ehemaligen Commonwealth. Gilt Irland schon eh als leicht abseitig, ist es das kleine Dorf, in dem die Geschichte spielt, erst recht.

Die Leute kennen sich alle und es sind fest eingespielte Rollen und auch Rituale, die das Ganze zusammenhalten und eindeutige Obere und Untere haben. Und dann kommt einer, der abgehauen ist nach London und seine Frau und Kinder alleine ließ, zurück und verspricht großen Reichtum für diejenigen, die sich auf seinen Plan einlassen. Es geht um Gold und einen Betrug an dem angeblich reichen Schnösel aus London, den er mitbringt und der auf einmal tot aufgefunden wird. Das geheime Zentrum des Romans ist die 15jährige Trey, die bei dem vor Jahren zugezogenen Ex-Polizisten aus den USA eine Heimat findet. Beide geben einander Halt und helfen, die Situation zu klären.

Die zehn besten Kriminalromane im Dezember 2024

1 (1) Pascal Garnier: Zu nah am Abgrund
Aus dem Französischen
von Felix Mayer
Septime, 144 Seiten, 20 Euro

St. Vincent, Ardèche. Nach dem Tod ihres Mannes fühlt sich Éliette, 64, im ländlichen
Alterssitz ein wenig allein. Unternehmungslustig nimmt sie einen netten Anhalter mit,
eine Liebelei entsteht. Gäbe es da nicht diese Reisetasche und seine koksende Tochter…
Aus Idylle wird tödlicher Mahlstrom. Sprachwitz, Höllentempo: Garnier.

2 (9) Katniss Hsiao: Das Parfüm des Todes
Aus dem Chinesischen
von Karin Betz
Suhrkamp, 484 Seiten, 20 Euro

Taipeh. Nach dem Selbstmord ihres jüngeren Bruders hat Yang Ning ihren Geruchssinn fast eingebüßt.
Nur Leichensäfte können ihn noch aktivieren. Als die Tatortreinigerin unter Mordverdacht gerät, begibt sie
sich bei einem Serienmörder in die Lehre.
Taiwanesische Variante zu Süskinds „Parfum“: Coming of Age einer Verstörten.

3 (6) Una Mannion: Sag mir, was ich bin
Aus dem Englischen
von Tanja Handels
Steidl, 375 Seiten, 28 Euro

Philadelphia, Vermont. Ruby ist vier, als ihre psychisch labile Mutter spurlos
verschwindet. Vater Lucas, toxisch puritanischer Macho, unterbindet über Jahre
hinweg alle Erinnerungen und Kontakte zu Rubys mütterlicher Familie. Ihre Tante
Nessa hält in Liebe zu ihr – gegen Lucas‘ Manipulationen und Lügen. Brillant.

4 (–) Gaea Schoeters: Trophäe
Aus dem Niederländischen
von Lisa Mensing
Zsolnay, 255 Seiten, 24 Euro

Afrika, Belgien. Hunter White, steinreicher Wertpapierhändler, sucht reales, hartes
Leben in der Großwildjagd. Als Wilderer ihm ein Nashorn vor der Nase wegschießen,
wird ihm ein Schwarzer als Beute angeboten. Atemberaubende Variation
des oft trivialen Menschenjagdmotivs, human, antikolonialistisch, einfach großartig.

5 (–) Tim O’Brien: America Fantastica
Aus dem Englischen
von Gregor Hens
HarperCollins, 527Seiten, 24 Euro

„Fulda“, Kalifornien, USA. ExInternetTroll Boyd raubt die lokale Bank aus, Beute:
sein eigenes Geld. Damit geht er auf Rachefeldzug, verfolgt von allen Gierigen, Unbefriedigten
und Bösartigen. Roadtrip durch ein Land, das von der Lügenkrankheit
verseucht ist. Rastlos wie ein CoenDrehbuch, bissiger, verzweifelter Wutanfall.

6 (3) Thomas Knüwer:
Das Haus in dem Gudelia stirbt
Pendragon, 290 Seiten, 20 Euro

„Unterlingen“. „Schuld schwimmt oben.“ In den Fluten des Dorfbachs treiben Menschen
und Tierleichen vorbei, beobachtet von der 81jährigen Gudelia. Alle sind geflüchtet, nur sie bewacht
ihr Haus. Denn es ist ihr Schicksal: die Liebe einer Mutter, die nicht loslassen kann.
Über vierzig Jahre grandios erzählt, begeisterndes Debüt.

7 (4) Boston Teran: Gärten der Trauer
Aus dem Englischen
von Jakob Vandenberg
Elsinor, 243 Seiten, 24 Euro

Armenien, 1915. Abenteurer und Agent John Lourdes, Mexikaner aus den USA,
gerät mit einem Geheimauftrag in den Genozid an den Armeniern. Deren Anführer
Priester Malek soll er nach Baku begleiten, aus der Todesfolter in die Freiheit.
Erschütternder historischer Spionageroman. Terans deutsches Debüt.

8 (–) Peter Weingartner:
Wurmstichig
Edition 8, 288 Seiten, 28 Euro

Sursee. Wie Leonardos vitruvianischer Mann liegt Immobilienmakler Hubi SoltermannMeyer tot
im Wald. Lokalkriminalist Anderhub, einer von der assoziierenden
und träumenden Sorte, und Kollegen decken Irrungen und Wirrungen auf, finden den
Wurm in einer Schweizer BourgeoisFamilie. Behutsam, bedächtig, hinterhältig.

9 (2) Alan Parks: Die April-Toten
Aus dem Englischen
von Conny Lösch
Polar, 444 Seiten, 26 Euro

Glasgow, Dunoon, April 1974. Magenkrank, zwischen Pflicht und Flucht, Chef und
Jugendfreund torkelnd, dennoch hellwach, ermittelt Harry McCoy. Verschwundene
junge Männer, explodierende Bomben, die „Söhne der 51“. (Nicht nur) schottische
Krankheiten:Homophobie,Suff,Gangster,jahrhundertealte Kriege.Blutig,brutal, zart.

10 (5) Holger Karsten Schmidt:
Finsteres Herz
Kiepenheuer&Witsch,463Seiten,17 Euro

Rostock, Hohen Sprenz. Auf der Jagd nach dem bulgarischen Waisenkind Sarah
schießen Gangster ein Safe House zusammen. Unter den Opfern Elling und
Mendt, die einzigen Polizisten, denen Kronzeugin Sarah vertraut. Hochspannendes
Katz und Mausspiel um Korruption, Verrat und Menschenhandel.

Die Krimibestenliste, wo kann man sie lesen, wer erstellt sie, wo wird sie veröffentlicht?

WO? außerhalb von WELTEXPRESSO?
Man muß man froh sein, nachdem Printmedien die Krimibestenliste nicht mehr veröffentlichen, daß der Deutschlandfunk Kultur die Kriminalromane als anspruchsvolles Genre noch nicht aufgegeben hat, sondern weiterhin jeden ersten Freitag im Monat die neue Liste bringt, die wir sobald wir können, nachveröffentlichen.

An jedem ersten Freitag des Monats geben also 17 Literaturkritiker und Krimispezialisten aus Deutschland, Österreich und der Schweiz die Kriminalromane bekannt, die ihnen am besten gefallen haben. Die Krimibestenliste war zuvor eine Kooperation der Frankfurter Allgemeinen mit Deutschlandfunk Kultur, der Sender, der nun die Krimibestenliste alleine veröffentlicht und trägt. Das wäre schon für die Regierungskoalition in Sachsen-Anhalt ein wichtiges Argument, den Rundfunkgebühren zuzustimmen.

Tobias Gohlis, Sprecher der Jury
Volker Albers, „Hamburger Abendblatt“
Gunter Blank, „Rolling Stone“
Katrin Doerksen, „Frankfurter Allgemeine Zeitung“, „Kino-Zeit“
Hanspeter Eggenberger, „krimikritik.com“
Fritz Göttler, „Süddeutsche Zeitung“
Jutta Günther, Kritikerin
Sonja Hartl, „Zeilenkino“, „Crimemag“, „Deutschlandfunk Kultur“
Hannes Hintermeier, „Frankfurter Allgemeine Zeitung“
Alf Mayer, „CulturMag“, „Strandgut“
Kolja Mensing, „Deutschlandfunk Kultur“
Marcus Müntefering, „Der Spiegel“
Ulrich Noller, „Deutschlandfunk“, „WDR“, „SWR“
Frank Rumpel, SWR
Ingeborg Sperl, „Der Standard“
Sylvia Staude, „Frankfurter Rundschau“
Jochen Vogt, „NRZ“, „WAZ“

Wie funktioniert die Abstimmung?

Die Krimibestenliste wird im Auftrag von Deutschlandfunk Kultur durch eine Jury aus Kritikerinnen und Kritikern erstellt.
Es sind die obigen 18 Spezialistinnen und Spezialisten für Kriminalliteratur aus Deutschland, Österreich und der Schweiz, die aus der laufenden Produktion monatlich jeweils vier Titel vorschlagen, die sie mit sieben, fünf, drei oder einem Punkt bewerten.
Der so gefundene Punktwert pro Titel wird mit der Zahl der für ihn abgegebenen Stimmen multipliziert. Daraus wird die monatliche Liste berechnet.
Jedes Jurymitglied darf insgesamt drei Mal für denselben Titel votieren. Voten für Titel, an deren Entstehung oder Vorbereitung man beteiligt war, sind verboten.
Die Titel dürfen nicht älter als zwölf Monate und keine Wiederauflagen, Sammelbände oder Anthologien sein. Unterschiede zwischen Hardcover, Paperback und Taschenbuch werden nicht gemacht.
Im Durchschnitt kommen fünf Titel neu auf die monatliche Liste. Die Ziffer in Klammern gibt den Rang des Vormonats an.

Info:

Rezensionen der Vormonate (die Monate davor finden Sie in den Besprechungen der jeweiligen Monate)

Besprechungen der Krimibestenliste in WELTEXPRESSO im Juni 2023

Besprechungen der Krimibestenliste in WELTEXPRESSO im Dezember 2023
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https://weltexpresso.de/index.php/buecher/30138-harper-rodriguez-mauvignier-smirnoff-verabschieden-sich

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Besprechungen der Krimibestenliste in WELTEXPRESSO im Mai 2024
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/31473-sieben-neue-titel
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/31474-lavie-tidhar-maror-ein-ganz-normales-land-auf-platz-1
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https://weltexpresso.de/index.php/buecher/31714-bird-von-adam-morris-neu-auf-platz

Besprechungen der Krimibestenliste in WELTEXPRESSO im Juni 2024
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/31772-sieben-neue-titel-je-einer-aus-frankreich-schweden-deutschland-und-suedafrika-drei-aus-usa
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/31986-wage-es-nur-von-megan-abbott

Besprechungen der Krimibestenliste in WELTEXPRESSO im Juli 2024
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/32135-vier-neue-titel-zwei-aus-usa-je-einer-aus-irland-und-england
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/32134-hitman-von-mike-nicol-auf-platz-8

Giancarlo De Cataldo, Tana French, Tiffany Tavernier

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